Ausgabe 38/2006 der Wochenzeitung Die Zeit gibt mal wieder Anlass zum Nachdenken. Es sind Grafik und Artikel auf Seite 10.
1. Es ist ein Balkendiagramm, das der Zeit liebste Element zur grafischen Darstellung quantitativer Daten. Es enthält - und diese Feststellung steht repräsentativ für alle Balkendiagramme in der Zeit - zuviel Clutter, zuwenig Information. Das Balkendiagramm gibt fünf Zahlen zu Mehrfachantworten ohne hohen Informationswert wieder. Zeit-online war so klug, die informationsdürre Grafik nicht abzubilden. Ein Eye-catcher wie eine Grafik sollte nicht in erster Linie bunt sein, sondern eine Fülle an Information bieten.
2. Gravierender: Es fehlt eine Angabe zur Grundgesamtheit (die Grundgesamtheit ist der Personenkreis, auf den die Prozentangaben übertragen werden können) - 100 % von was? 100 % von welchen muslimischen Frauen?
3. Diese fehlende Information stützt die sensationsmachende Lüge der Repräsentativität im Titel des Artikels: "Die erste repräsentative Untersuchung muslimischer Kopftuchträgerinnen zeigt: Sie sind ganz normale Frauen." Die Quelle, auf den sich Die Zeit beruft, die Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) schreibt etwas anderes:
Die praktische Umsetzung erwies sich insofern als nicht ganz einfach, weil der Königsweg der empirischen Sozialforschung, die Datenerhebung mittels einer repräsentativen Stichprobe, in diesem Fall ausschied. Es gibt kein Verzeichnis Kopftuch tragender Frauen, aus dem eine Stichprobe hätte gezogen werden können. [...] Es wurden zweisprachige Interviewerinnen (türkisch/deutsch) [...] rekrutiert, die anhand eines zweisprachigen Fragebogens in ausgewählten Moscheegemeinden Kopftuch tragende, türkischstämmige Frauen im Alter zwischen 18 und 40 Jahren interviewen sollten. [...] Insgesamt wurden 315 türkischstämmige Frauen befragt. Wir haben uns auf türkischstämmige Frauen beschränkt. [...] Die von den Interviewerinnen besuchten Moscheegemeinden sind so ausgewählt worden, dass sie einen gewissen Querschnitt des islamischen Lebens in Deutschland spiegeln sollten. Das Spektrum reichte von Gemeinden, die vom Verfassungsschutz beobachtet werden, bis hin zu eher liberalen Gemeinden. Einbezogen wurden Moscheegemeinden in Hamburg, im Rheinland, in Berlin und Stuttgart. Es handelt sich bei dieser Untersuchung also nicht um eine repräsentative Studie. Die Erstellung einer repräsentativen Studie ist bei dieser Personengruppe nicht möglich, da die Bedingungen zur Ziehung einer Zufallsauswahl nicht vorliegen. Die Aussagen dieser Studie sind daher im streng statistischen Sinn nicht ohne weiteres auf alle Kopftuch tragenden Musliminnen zu übertragen. Dennoch ist davon auszugehen, dass die Ergebnisse weit über den befragten Personenkreis hinaus gelten. (12/13)
Die Studie ist nicht repräsentativ für muslimische Kopftuchträgerinnen in Deutschland. Sie ist erstens begrenzt auf die in Deutschland lebenden Kopftuchträgerinnen mit türkischem Migrationshintergrund im Alter von 18 bis 40 - vermutlich die liberalsten Kopftuchträgerinnen der Welt. Und zweitens beruht sie nicht auf einer Zufallsauswahl der Befragten. Die Zeit möchte sich aus der Affäre ziehen, indem sie auf die Güte der Daten pocht:
Die Arbeit [...] ist fast in jeder Hinsicht so repräsentativ, wie eine Studie über eine Gruppe unbekannter Größe und Zusammensetzung es nur sein kann.
Das ist geschönt. Die KAS schreibt:
Der Forschungsansatz und die nicht repräsentative Auswahl führten zu gewissen Verzerrungen hinsichtlich der sozialstrukturellen Zusammensetzung der befragten Frauen. So verfügten die Teilnehmerinnen über ein überdurchschnittliches Bildungsniveau. (15)
Fazit: Die Zeit sollte sich hüten, eine Studie repräsentativ zu nennen, wenn der Quelltext dies vehement ablehnt und kein Zufallsprinzip angewandt wurde.
Dennoch: Auch wenn sie sich diese Faux-pas leistet und auch wenn ich nicht beim großen Sommerpreisrätsel gewinne: Die Zeit ist und bleibt meine Lieblingszeitung.
Zum Artikel auf www.zeit.de Was denkt der Kopf unter dem Tuch
Jessen/Wilamowitz-Moellendorff (2006). Das Kopftuch - Entschleierung eines Symbols? KAS.
Zeit-Kritik I: Grafiksalat zur Kinderbetreuung [Ausgabe 27/2006]
Zur Kritischen Antwort auf die KAS-Studie im Blog von Lutz Sindermann.
Trophäen zu diesem Blogeintrag
Quelle: MyStatcounter